Manipulation von Kindern und Entfremdung von Eltern – wo bleibt das Kind?
Wenn ein Krieg um das Kind entbrennt, dann gibt es selten Gewinner. Darüber hinaus wird im Streit häufig das vergessen, worum es wirklich gehen sollte: Das Kind. Manipulation von Kindern und Entfremdung von Eltern sind an der Tagesordnung. Doch warum?
Wir erleben es täglich in der Arbeit, dass sich Elternteile so in dem partnerschaftlichem Konflikt verlieren, dass sie nicht nur das Kind darüber vergessen, sondern sich überdies das Kind als Komplizen auswählen und in die Dynamik mit hinein ziehen. Über einen manipulierten Kindeswillen kommt es zu Kontaktabbrüchen, die durch gründliche Überprüfung des kindlichen Willens auf Induzierung vermieden werden könnten.
„Indirekte Induzierung meint das Gewähren und Versprechen von Vorteilen wie Geschenke, Zuwendung, Freizügigkeiten. Die direkte Induzierung betrifft konkreter das Verändern von Einstellungen und Willensinhalten von Kindern in Bezug auf bestimmte Personen („er lügt“) oder in Bezug auf die Zukunft („sie ist nur so lange nett zu dir, bis du dort lebst“).“
Harry Dettenborn, Kindeswohl und Kindeswille, 6. Auflage 2021, S. 94
Suggestion und Alter
Kinder entwickeln erst im Alter von 3-4 Jahren anfänglich ein autobiografisches Gedächtnis. Zu Beginn sind sie dabei verstärkt auf spezifische Gedächtnishilfen angewiesen um Informationen zu reproduzieren (vgl. Dettenborn 2001, S. 76).
In diesem Alter ist also die Suggestibilität höher als das Risiko falsche Erinnerungen zu produzieren (vgl. Salzgeber, 2020).
Die Gefahr der Induzierung fremden Willens nimmt sicher mit dem Alter ab, jedoch steht der Kindeswille im Spannungsfeld eines gerichtlich ausgetragenen Elternkonfliktes grundsätzlich in Frage (Wegener, 2015, 823, Rn. 26).
Kontaktabbruch oder Entfremdung nur in begründeten Ausnahmefällen
Ein Kontaktabbruch kann nach unserer tiefsten Überzeugung nur in begründeten und durch das Kind begründbaren Fällen hinzunehmen sein. Es gibt jedoch unzählige Beispiele, in denen Kinder ohne einen nachvollziehbaren Grund und entgegen der Beobachtungen von Fachleuten im Umgang, welche von guter Bindung und gelungenen Kontakten sprechen, plötzlich den Kontakt mit einem Elternteil ablehnen.
Widersprüche zwischen der Bindungserfahrung und Aussagen
Darunter die fünfjährige L., die davon berichtete, wie toll es gewesen sei mit ihrem Vater Kaufladen zu spielen und ebenso äußerte „keine Lust“ mehr zu haben ihren Vater wiederzusehen. Die Rationalisierung dieses Wunsches war in diesem Fall besonders auffällig, da L. ihre Ablehnung damit begründete, dass ihr Vater „große Zähne“ habe. Altersgemäß wäre ein Bezug auf Verhalten des Vaters in Besuchskontakten oder im Spiel zu erwarten gewesen.
Gerichte hinterfragen absurde Rationalisierung nicht
Vom Gericht wurde hier, wie leider viel zu häufig in Kindesanhörungen, versäumt diese absurde Rationalisierung zu hinterfragen. Bei der Überprüfung des kindlichen Willens ist jedoch unbedingt nach dem Woher und Wohin zu fragen, also nach dem Bedürfnissen und Gefährdungen der kindlichen Bedürfnisse, und nach der Zielorientierung (Balloff, S. 248).
Vor allem für Kleinkinder sind Bindungen sehr wichtige Motivatoren. So passen sich Kinder beispielsweise in ihren Ansichten an den Elternteil an, um nachteilige Folgen wie einen Liebesentzug, oder Terror zu vermeiden (Balloff, S. 95) Auch in zunehmendem Schulalter, wenn Freunde eine größere Rolle spielen, sind die Eltern immer noch die engsten Vertrauten und wichtigsten Bezugspersonen.
Belastende Konfliktdynamik
Die Konfliktdynamik zwischen Mutter und Vater kann für Kinder sehr belastend werden, sie erleben sich zwischen den Stühlen. Sie fühlen sich gedrängt, sich für eine Seite zu entscheiden, und wählen häufig die Seite des Elternteils, bei dem sie den Lebensmittelpunkt haben, um sich den für sie negativen Folgen den Konfliktes im eigenen Zuhause zu entziehen.
Baumann, Michel-Biegel, Rücker und Serafin schilderten hierzu in ZKJ 8/22:
„In Fallkonstellationen der Eltern-Kind-Entfremdung ist die ablehnende Haltung des Kindes gegenüber einem der beiden Eltern häufig nicht auf eine autonome Entwicklung zurückzuführen. Vielmehr wollen sich Kinder mit der Äußerung der Ablehnung des Kontakts dem zermürbenden Loyalitätskonflikt entziehen, in den sie das unverhohlen feindselige Verhalten der Eltern ggf. in Kombination mit der übersteigert angstbetonten Haltung der überwiegend betreuenden Elternperson getrieben hat, indem sie sich mit der Haltung dieser Elternperson solidarisieren.“
Formen der Ablehnung
Bei L. zeigt sich dies in der Ablehnung der Kontakte zum Vater. Es ist vorstellbar, dass L. sich zur Bewältigung der Dissonanz zwischen eigener positiver Wahrnehmung des Vaters, und den induzierten, abwertenden Urteilen der Mutter in bekannte Märchenwelten flüchtete, wie Rotkäppchen, und den Vater in einen Bösewicht mit großen Zähnen umschrieb, um in die Wahrnehmung der Mutter zu passen.
Bei V. zeigte sich dies in ablehnender Haltung zur Mutter, die sich innerhalb kurzer Zeit (November – April) deutlich verstärkte. Jedoch blieb diese ablehnende Haltung oberflächlich und begründete sich nur darauf, dass die Mutter ihn manipulieren wolle.
Erwachsenensprache als deutliche Anzeichen für Manipulation
Die Erwachsenensprache („Manipulation“) und die Tatsache, dass das Kind die Besuchskontakte durchweg positiv beschreibt, seinen Wunsch, die Mutter zu sehen, dann jedoch über langen Zeitraum im väterlichen Haushalt ändert und davon spricht „erst später“ erkannt zu haben, was die wahre Absicht der Mutter sei, sind deutliche Anzeichen für Manipulation.
Sollte man dem Kindeswunsch nachgeben?
Sollte dem Wunsch dieser Kinder entsprochen werden, und Vater / Mutter aus dem Leben des Kindes verbannt werden, die Bindung zu einem Elternteil gekappt werden, auch wenn dieser Wunsch höchstwahrscheinlich eingeredet wurde?
Es benötigt nicht viel Vorstellungsvermögen um zu verstehen, dass diese Entscheidungen langfristige, negative Konsequenzen haben. Denn unabhängig von der Qualität der Beziehung, entwickeln die meisten Kinder eine Bindung an ihre Eltern. Und diese Bindung zu trennen, einen Elternteil vom Kind zu „entfremden“, hat logischerweise Folgen.
Missbrauchsgefahren gegen reale Gefahren abwägen
Damit soll keineswegs abgesprochen werden, dass es eine reale Gefahr gibt, die von Eltern ausgeht, die physisch oder mental gewalttätig sind und das Kindeswohl gefährden, sondern darauf hingewiesen werden, dass Missbrauch in mehr Formen existiert, darunter auch in Form von Manipulation und Kontaktabbrüchen.
Den kindlichen Willen zu biegen und brechen, damit er in das eigene, elterliche Weltbild passt, schadet laut Studien nicht nur dem Kind, das gezwungen wird eigene Bedürfnisse und Wahrnehmungen zu leugnen, und zu ändern, sondern auch der Beziehung zu beiden Elternteilen. Die Bezugsperson mit mehr Kontakt und Macht ist zwar zunächst im Vorteil, weil sie mehr manipulieren kann, jedoch wendet sich dieser Koalitionsdruck, den ein Elternteil ausübt, langfristig auch gegen sie selbst (Dettenborn, S. 93 ff.).
Fahrenholz und Zumbach (2020) fassten schon vor vier Jahren zusammen, dass sich das Recht des Kindes auf Umgang nicht gegen seinen Willen durchsetzen lässt, und genau so wenig erzwungene Kontaktabbrüche, ohne die Beziehung zu den Eltern langfristig zu belasten.
Mehr tun gegen Manipulation und Entfremdung
Für Kinder wie L. und V. muss in Familienverfahren mehr getan werden. Kindesanhörungen sollten unter Augenmerk auf die dabei zu berücksichtigen Faktoren durchgeführt und diese ordnungsgemäß dokumentiert und der Kindeswille gründlich auf Gefährdungen und Induzierung geprüft werden. Manipulation von Kindern und Entfremdung darf nicht einfach hingenommen werden.
Eine Antwort auf „Manipulation von Kindern und Entfremdung – wo bleibt das Kind?“
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